Dienstag, 26. November 2013

Prager Eindrücke I

Seh ich an jene Wand, ahn' ich den Mensch dahinter; zumindest ist es so, eh die Zeit knapper und knapper zu werden scheint und die Blicke flüchtiger. Wir sollten uns mehr Zeit nehmen für Dinge, die uns wichtig sind.
Deshalb folgt nun die erste Stimme eines Duettes, entstanden auf einer Reise nach Prag, zu der ich kürzlich mit Freunden aufbrach. Ich schätze, der die Stadt an jenem Wochenende beherrschende Nebel hat sich trübend, doch auch fokussierend, auf sie gelegt:



Vom Zustand der Fassaden

Sie holt uns nicht mehr ein, nie mehr.

Erstarrt zum bloßen Blickfang steten Knopfgewitters, langsam ergrauend vom Abrieb anhaltenden Verkehrs, den sie trägt, engt sie uns ein, scheinbar; nein, gibt uns längst vergessenen, entbehrten Rahmen, oberflächlich gleichwohl, jederzeit wahllos auffüllbar, so leer, so hohl geworden.
Bisweilen zerbrochen; hier und da ersetzt einen Zahn im Kiefer der Stadtgeschichte betoniertes, gläsernes Amalgam, von Lichtplatten überzogen scheint es stolz seine historische Unzulänglichkeit über den alten verkommend-natürlichen, abgasigen Glanz seiner Stiefbrüder zu werfen gleich einem unheilvollen Spiegel.

Denn auch sie sind schon hohl, Hülle, Relief allein, allein von Konsum noch am Leben erhaltene, betäubte Wurzel, solange die Taschen noch gefüllt werden können aus diesem Nichts. Wie paradox.

Die letzten Gesunden, in Seitengassen versteckt wie die großen Weisen noch undurchbrochen im Zahnfleisch, wie anachronistisch muten sie an, wenn die Neugier sie gleich einem dumpfen Schmerz ins Bewusstsein rückt, dass es dem stillen Betrachter nach

Smoking und Zylinder
Dreiteiler und Melone
Abendkleid und ausladendem Hut
Drink und Cigarre
Tanzkarten und Taxis
Boas und Parfum
Schönheitsfleck und Schnauzbart

nach ehrerbietenden Obern verlangt, mit denen man nach schicksalsschwerer Nacht, bar-trunken, doch längst schon gut Freund ist wie mit dem Liebchen im Hinterzimmer, deren Liebe flüchtig und anhaltend zugleich ist. Wie paradox.

Traurig, diese schleichende Selbstvergiftung der Fassaden, die sich in Panoramafenstern im Vorübergehen spiegeln, die nicht geschaffen sind für die defizitäre Aufmerksamkeitsspanne des endlosen Stroms, den sie tragen und der sie trägt. Sie finden täglich ungewollt, ungefragt, tausendfach ihr Grab auf Negativen, Speicherkarten, unbetrachtet durch Sucher und Bildschirm und Objektiv und Brillenglas und Linse, ungeschätzt, vergessen, bis jemand gleich einem Kriminalkommissar den Verdächtigen zu erkennen sucht, wiederverwertet, ausgestellt im Netz.

Kein Herz liegt in dem Blick, der sie noch trifft.

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